Eine kurze Geschichte des Nam Yang Shaolin Kung Fu

  

nach Master Iain Armstrong, übersetzt von Johannes M. Wagner

  Der Ursprung des Shaolin Kung Fu

 Die Kampfkunst des Shaolin Kung Fu geht auf einen indischen Mönch mit dem Namen Tat Moh zurück, welcher der Nachwelt als Bodhidarma bekannt wurde. Er begann sein Leben als Prinz im Süden Indiens, gab jedoch seine königliche Herkunft auf entschied sich für das einfache, aber strenge Leben eines buddhistischen Mönchs. Auf seinen ausgedehnten Reisen verbreitete er die Lehre des Buddha; er gilt als der 28. Patriarch des Buddhismus. 

 

Im 6. Jhd. war es für indische Mönche üblich, nach China zu reisen, wo ihre buddhistischen Lehren begierig aufgenommen wurden. Im Jahre 520 begab sich auch Tat Moh auf solch eine Reise durch Indien und China, um sich schließlich im Kloster Shao Lin („Kleiner Wald“) niederzulassen. Er war darüber enttäuscht, die dortigen Mönche durch das viele Fasten und das schlichte Leben körperlich geschwächt vorzufinden – seiner Meinung nach damit unfähig, den strengen Regeln des Buddhismus recht zu folgen.

 

Daher zog Tat Moh sich zur Meditation in die Einsamkeit einer Höhle zurück, auf der Suche nach einer Lösung für dieses Problem. Als er nach neun Jahren des Studiums schließlich zurückkehrte, hatte er eine Reihe von Übungen für die Mönche entwickelt – das Chi Kung. Diese Technik war an die Übungen des indischen Yoga angelehnt und zielte darauf ab, den Fluss des Chi, der natürlichen Körperenergie, zu stärken und so Gesundheit und langes Leben zu fördern. Diese Technik war so erfolgreich, dass sie sich rasch verbreitete und bis heute die Basis der Shaolin-Kampfkunst bildet.

 Offenbar hat es in China mehrere Tempel mit dem Namen Shaolin gegeben. Dieser kleine historische Abriss beschäftigt sich jedoch ausschließlich mit dem Shaolin-Tempel in der Provinz Fukien, auf den unsere Kunst zurückgeht. In der Geschichte Chinas finden sich lange Perioden der Gesetzlosigkeit. Räuberbanden waren eine stete Bedrohung sowohl für die buddhistischen Tempel als auch die durch das Land reisenden Mönche. Um sich selbst zu beschützen, entwickelten diese daher eine Kampfkunst auf der Basis der von Meister Tat Moh entwickelten Übungen.

 

Buddhistische Mönche sind grundsätzlich freundlich und friedliebend. Ihren Kampfstil entwickelten sie daher mit einem Fokus auf Selbstverteidigung. Dieser Stil wurde Lohon genannt, nach der Bezeichnung für die im Tempel lebenden Mönche, die es entwickelten. Der Lohon-Stil ist eine sehr einfache Form des Kung Fu, die sich auf niedrige Positionen und eine starke Körperhaltung konzentriert. Er erwies sich als sehr erfolgreich.

 

Die Mönche des Shaolin-Tempels übten fleißig, um ihre Fähigkeiten zu verbessern, und arbeiteten stetig an einer Weiterentwicklung ihrer Kampfkunst. Einen großen Schritt machten sie mit der Entwicklung des Tiger-Stils, Tai Chor in ihrer Sprache. Dieser wurde vom chinesischen Kaiser entwickelt, der – wie vor ihm Bodhidarma und auch der Buddha selbst – seinen königlichen Würden entsagte, um sich den strengen Regeln des Buddhismus zu unterwerfen. Er ließ sich im Shaolin-Tempel nieder und studierte die Kampfkunst in ihrer Tiefe, um schließlich den Tiger-Stil zu entwickeln, der deshalb manchmal auch als Kaiser-Stil bezeichnet wird.

 

Der Tiger-Stil setzt große Kraft frei und war damit in der Lage, den Lohon-Stil zu verdrängen und zu beerben. Er nutzt eine starke, aber bewegliche Grundhaltung, die wir auch in der Tiger-Crane-Kombination verwenden: Der „Walking- Stance" (Schritt-Stand). Außerdem beruht er auf einem starken Drehschlag; einem geraden Schlag, der in einer Drehung der Faust endet. Dieser ist mittlerweile ein allgemeines Kennzeichen des Shaolin Kung Fu geworden.

 

Kein Stil ist unbesiegbar. Jede Bewegung hat eine Konterbewegung. So wurde mit der Zeit an anderer Stil entwickelt, der den Tiger-Stil schlagen konnte. Dies war der Affen-Stil, in China Xing Zhe genannt; ein sehr schneller, unvorhersehbarer Stil. Der Affe neigt dazu, sich in rascher Folge seinem Gegner zu nähern, zuzuschlagen und sich wieder zurückzuziehen. Selbst wenn der Affe mit seinem Schlag nicht trifft, bewegt er sich schnell genug aus der Reichweite seines Gegners heraus, um nicht von einem Gegenschlag getroffen zu werden.

 

Die Schläge des Affen sind eher präzise als kraftvoll und werden mit Fingern oder der offenen Handfläche ausgeführt. Er verwendet auch gern Greiftechniken. Der Affen-Stil bewegt sich nah am Boden und attackiert die untere Körperhälfte des Gegners, mit Vorliege die Leistengegend, was vor allem für männliche Gegner oft zum schwerwiegenden Problem wird. Da der Affen-Stil viel Kriechen und Rollen beinhaltet, ist er vor allem für kleinere Personen geeignet. Er gilt als als einer der unterhaltsamsten Stile.

 

Wie kann nun der Affen-Stil wiederum gekontert werden? Die Techniken des weißen Kranichs bilden den letzten und technisch versiertesten Stil, der im Shaolin-Tempel in Fukien entwickelt wurde. Bis zu diesem Tag wird der Crane-Stil mit großem Respekt angesehen und von seinen Meistern als Geheimnis gehütet. Daher war er auch der letzte Stil, der in der Geschichte des Kung Fu in China dem Westen offenbart wurde.

 

Was also ist das mächtige Geheimnis des "White Crane" (weißen Kranichs)? Der Kranich klebt. Sobald er angegriffen wird, stellt er Berührungskontakt her. Wenn der Gegner versucht, einen Schlag zu landen, lenkt der Kranich diesen ab; wenn der Gegner sich zurückzieht, setzt der Kranich nach; er lässt niemals vom Kontakt ab, bis er eine sichere Möglichkeit findet, selbst zuzuschlagen – was er dann ohne Gnade tut. Was nützen die trickreichen Techniken des Affen? Flitzt er davon, bleibt der Kranich dran und klebt an ihm, bis sich eine Gelegenheit zum Zuschlagen anbietet. Der Crane-Stil stellt den Höhepunkt der Shaolin-Kampfkunst dar.

 

 Die Tiger-Crane-Kombination

 

Von den fünf Meistern, die aus dem Shaolin-Tempel bei dessen Brand entkommen konnten, war Hung Eee Kan der bekannteste. Er war Meister des Tiger-Stils und bekannt für die Stärke seines Stands und die die Kraft seines Schlags. Er nahm viele Herausforderungen an und wurde niemals besiegt. Viele Stile des Kung Fu führen ihre Herkunft auf ihn zurück, einschließlich des berühmten Hung Gar.

 

Nach der Zerstörung des Tempels durch die Mandschuren-Herrscher versteckte Hung Eee Kan sich bei einem chinesischen Opern-Ensemble. Die Truppe reiste in ihrer bekannten Roten Barke durch China und führte ihre Opern vor; eine hervorragende Tarnung für den Kung-Fu-Meister. Er gab sich als Mitglied der Oper aus und schlich sich bei jedem Halt in die Stadt, um die Gegner das Mandschuren-Regimes zu versammeln und neue Ableger der oppositionellen Geheimgesellschaften zu gründen. Er lehrte sie die Geheimnisse des Kung Fu, um sie auf einen Aufstand gegen die Mandschuren vorzubereiten. So verbreitete sich Kung Fu durch ganz China.

 

Einige Jahre, nachdem Hung Eee Kan die Rote Barke verlassen hatte, traf er auf einen alten Mann, der seiner Tochter Kung Fu lehrte. Er erkannte den von ihnen praktizierten Stil nicht, war aber fasziniert von seinen weichen und sanften Bewegungen. Da er die beiden nicht stören wollte, versteckte er sich in einem Baum und beobachtete sie. Der alte Mann entdeckte ihn jedoch bald und bat ihn, herunterzukommen und mit zu trainieren. Im folgenden Übungskampf zwischen ihm und dem Mädchen – ihr Name war Tee Eng Choon – war er erstaunt, dass seine heftigen Schläge und Blocks das zerbrechlich wirkende Mädchen nicht überwältigen konnten, wie sie es bei den zahllosen Kämpfen zuvor vermocht hatten. Ihr Stil war weich, sie wich seinen Schlägen aus oder lenkte sie um, anstatt sie zu stoppen, was all seine Stärke nutzlos machte. Sobald sie aber eine Lücke in seiner Verteidigung ausmachen konnte, nutzte sie diese mit einem raschen, präzisen Schlag auf einen empfindlichen Punkt aus.

 

Ihre Techniken waren – natürlich – die des White Crane. Hung Ee Kan war von diesem Stil beeindruckt, gegen den große Kraft nichts ausrichten konnte. Er blieb bei der Familie Tee, um mehr über den Crane-Stil zu lernen, und verliebte sich in Tee Eng Choon. Sie heirateten und erschufen gemeinsam einen Stil, der die Stärken ihrer jeweiligen Stile vereinigte: Die große Kraft des Tigers und die weiche, sanfte Technik des Kranichs. So entstand die Tiger-Crane-Kombination und wurde in der Familie Tee von Generation zu Generation weitergegeben. Der Distrikt der Proviz Fukien, in dem die Familie Tee lebte, wurde später nach Eng Choon benannt.

 

 Es war Tee Ley, der Meister der Ironpalm-Technik, der den Tiger-Crane-Stil in China bekannt machte. Es hieß, dass er nur seine rechte Hand trainiere und alles, was er damit anfasse, zu Staub verwandeln könne. In früheren Jahren war es für Kung-Fu-Meister in China üblich, sich gegenseitig zu Kämpfen herauszufordern, die auf erhöhten Plattformen, sogenannten Lei Tai, abgehalten wurden. Tee Ley war dafür bekannt, viele Lei Tai gekämpft und seine Gegner gewöhnlich dabei getötet zu haben. Schließlich hatte er alle Herausforderer geschlagen und war als unbesiegter Meister in ganz Südchina anerkannt.

 

Als er älter wurde, zog Tee Ley sich von den Kämpfen zurück und wurde Schuhmacher. Einige Zeit später forderte ihn der unbesiegte Meister Nordchinas jedoch noch einmal zu einem Wettkampf heraus, um herauszufinden, was überlegen sei: der nördliche Kampfstil mit vielen hohen Tritten und weiträumigen Handtechniken oder der südliche Stil mit starkem Stand, Nahkampfhandtechniken und einem Schwerpunkt auf Blocks.

 

Tee Ley lehnte die Herausforderung ab, da er sich vom Kämpfen zurückgezogen hatte und nicht mehr trainierte. Der Meister aus Nordchina gab jedoch nicht auf und hörte nicht auf, Tee Ley zu bedrohen. Schließlich entschied dieser, dass er handeln müsse, und reiste nach Norden, um die Herausforderung anzunehmen. Er traf Vorbereitungen für eine rasche Flucht, da er wusste, dass die Nordchinesen an ihm Rache nehmen wollen würden, sollte er ihren Meister besiegen.

 

Tee Ley suchte seinen Gegner auf und sie kämpften auf einem Lei Tai. Der nördliche Meister war der Tiger-Crane-Kombination und der Ironpalm-Technik nicht gewachsen und sank bald tot zu Boden. Tee Ley stahl sich durch die folgende Unruhe hindurch zu seinem wartenden Boot und segelte zurück nach Südchina, wo ihn ein Heldenempfang erwartete. Die Ereignisse sprachen sich bald herum, Tee Ley wurde unheimlich bekannt und ebenso sein Stil: Die Tiger-Crane Kombination.

 

 

 

Meister Ang Lian Huat ist der Gründer der Nam Yang Pugilistic Association. Er wurde auf Quemoy geboren, einer Inselfestung vor der Küste der Provinz Fukien. Er begann sein Training der Tiger-Kranich-Kombination im Alter von acht Jahren bei Meister Tee Hong Yew, einem Mitglied der Familie Tee, in welcher der Stil über die Generationen weitergegeben worden war. Letzteres war als „geheimnisvoller alter Mann“ bekannt, da er ohne ein Wort zu kommen und zu gehen pflegte.[5] 

 

Neben der Tiger-Crane-Kombination lernte Meister Ang auch verschiedene andere Stile. Sein zweiter Meister war Tan Kew Leong, welcher den Kräutermedizinverkäufern im Chuan-Chew-Distrikt vorstand. Diese waren in der Regel fortgeschrittene Kampfkünstler und wurden in den Dörfern und Städten, die sie besuchten, oft zu Kämpfen aufgefordert. Tan Kew Leong hatte sich auf den Tiger-Stil spezialisiert und beherrschte ebenfalls das Shaolin-Waffen-System.

 

Meister Angs dritter Meister war Miao Sian Meng, ein Mönch aus dem Shaolin-Tempel von Chuan Chew. Von ihm lernte er die vollständige „weiche und sanfte Frost- und Sonnenkunst des White Crane“ (Shuan Yang Pei Ho Rou Rouan Chien) und äußerliche chinesische Medizin.

 

Die Familie von Meister Angs war recht wohlhabend, weshalb er sich die besten Kung-Fu-Lehrer der Welt leisten konnte. Er konzentrierte sich voll und ganz auf sein Kung Fu. Sein Vater war ein Holzhändler, der leider starb, als Meister Ang noch recht jung war. Sein Bruder übernahm das Geschäft und sie zogen 1947 nach Singapur, das zu dieser Zeit viele chinesiche Emigranten anzog.

 

Mittlerweile sehr weit im Kung Fu fortgeschritten, gründete Meister Ang 1954 in Singapur die Nam Yang Pugilistic Association, in welcher er neben Chi Kung und Löwentanz auch die Tiger-Crane-Kombination, Shuang Yang Pei Ho, die Lohon-, Tiger-, und Affen-Stile des Kung Fu sowie die Shaolin-Waffen-Kampfkunst lehrte. Großen Wert legte er auf die Form des Sum Chien. Er starb 1984 im Alter von 60 Jahren, nachdem er einige Zeit an Diabetes gelitten hatte.

 

Sein Meisterschüler Tan Soh Tin führte die Nam Yang Pugilistic Association als Meister weiter und nach ihm sein Schüler, Meister Iain Armstrong, der schließlich mein Meister wurde und mich in die Tradition und die Künste des Nam Yang Kung Fu einführte.